Orpheus oder die Macht des Urtons

Zwischen Dionysos und Apollon
Von: Zerling, Clemens
Synergia Verlag, 2016. 114 S., kart.

ISBN: 9783906873008

20,00 €

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ACHSENZEIT. So tauft der Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) die Ära vom 8. bis 5. Jahrhundert v. Chr.; zu Recht! In jener Zeit setzt die Gesamtmenschheit zu einem Quantensprung an in Richtung Bewusstseinsentwicklung. Bewusstwerdung bedeutet Selbstwerdung. Einzelnen gelingt dabei eine Erfahrung von besonderer Tragweite: Das, was sie sich bislang als höchste geistige Gottheit vorstellen, muss wohl nicht nur irgendwo draußen in den Weiten des Kosmos beheimatet sein. Diese Gottheit führt und hegt offensichtlich eine Dependance in der Seele des Menschen. Von dort offenbart sie sich zugleich als größte Fülle und vollkommene Leere, als EINE Gottheit über allen subalternen und von IHM abhängigen Göttern.

Solche Erfahrungen verlangen natürlich nach neuen Fragestellungen. Sind wir eigentlich menschlich oder etwa göttlich? Woher kommt der nichtmenschliche Anteil in uns und was passiert mit beiden seelischen Komponenten nach dem Tode? Sollte nun die gesamte Schöpfung aus dieser EINEN und einzigen Quelle hervorsprudeln: Wie erklären wir dann die anstrengende Häufung von Gegensätzen in der sichtbaren Welt, wie ihre scheinbar unerschöpfliche Vielfalt?

 
Um etwa 500 v. Chr. löst in den griechischen Kolonien Süditaliens eine exzentrisch religiöse Bewegung unter dem Namen Orphik reichlich Unruhe aus. Sie präsentiert sich zwar ausgeprägt ethisch, vertritt allerdings kühne Seelenvorstellungen sowie überhaupt neuartige Ansätze religiösen Verstehens. Orphiker enthalten sich der Fleischspeise, des Weines, zum Teil auch der Sexualität und richten ihr Leben fromm auf ein göttergleiches Dasein im Jen-seits aus. Doch das höchst Beunruhigende, vor allem für die Hüter von Gesetz und Ordnung, liegt darin, dass diese asketische Orphik und ihre völlige Umkehrung, nämlich die skandal-trächtig maßlosen bacchischen Mysterien, dem gleichen Ideenkomplex angehören. Beide fußen auf einer unabdingbaren Dionysos-Verehrung. Orphiker verbreiten ihre Lehren in Form althergebrachter Dichtkunst und mythischer Buchweisheit. Sie schreiben dies einem weisen Dichter-Theologen und Philosophen Orpheus zu, um ihre Neuerungen zu legitimie-ren. Schließlich soll er Sohn der Muse Kalliope sein, einer Tochter des Zeus. Wer aber ist dieser Orpheus, der den archaischen Dionysoskult auf Apollon ausrichtet? 
 
Frühe griechische Autoren preisen ihn als unübertroffenen Sänger und „Kitharoden“, der auf seinem leierartigen Instrument zauberhafte Melodien spielt. Seine Musik, so die legen-denhaften Ausschmückungen, vermag selbst wildeste Tiere zu besänftigen, die sich zahm zu seinen Füßen niederkauern. Sie lauschen ebenso ergriffen wie Bäume und Felsen, die ihm sogar folgen, um keinen dieser Töne zu verpassen. Was sind das nur für Klänge, die er seiner Kithara entlockt? Als seine Gattin Eurydike stirbt, steigt Orpheus in die finstere Unterwelt hinab, wo seine musikalischen Talente selbst den ansonsten weniger zart besaiteten Herrscher Hades gnädig stimmen und die Seelen der Verstorbenen in ihren Bann zwingen. Warum aber gelingt es dem Musensohn trotzdem nicht, Eurydike aus der Unterwelt zu ent-führen? Aus welchen Gründen töten und zerstückeln ihn in den Bergwäldern umherstrei-fende Dionysosanhängerinnen, die rasenden Mänaden? Wie kommen Kirchenväter dazu, in ihm vorbildhafte Züge für Christus zu entdecken? Wieso bleibt bis heute das Wesen eines spirituellen Initiators und von Initiation unlösbar mit dem Namen Orpheus verknüpft? 
 
 

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Autor/in

Zerling, Clemens

 

Clemens Zerling gründete Ende der siebziger Jahre in Berlin einen Verlag mit Schwerpunkt Alternative Medizin, Völkerkunde, Kultur- und Religionsgeschichte und ist seit 2000 als freier Journalist und Publizist tätig. Von ihm stammen zahlreiche Fachveröffentlichungen in den Bereichen Kult- und Kulturgeschichte, Symbolik und religiöses Brauchtum. Er ist u.a. Autor von »Masken im Alpenraum« und dem »Lexikon der Tiersymbolik« sowie Mitautor von »Heilige Wälder, Heilige Haine« und dem »Lexikon des Dunklen«.
 



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